Frau mit Rückenschmerzen

„Manche Schmerzen brennen sich ins Gehirn“

Von , Medizinredakteurin
Christiane Fux

Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

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Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Nervenschmerzen: Rund zwölf Millionen Menschen in Deutschland leiden unter chronischen Schmerzen. Oft dauert es Jahre, bis sie Hilfe finden. Der Schmerzmediziner Prof. Sven Gottschling* erklärt im NetDoktor-Interview, was man tun kann, damit chronische Schmerzen gar nicht erst entstehen – und wie man sie in den Griff bekommt.

Herr Professor Gottschling, bei etwa zwei Drittel der Menschen mit chronischen Schmerzen hat sich der Schmerz verselbstständigt – das heißt, der ursprüngliche Auslöser ist gar nicht mehr vorhanden. Das beschreiben Sie auch sehr anschaulich in Ihrem aktuellen Buch*. Warum tut es trotzdem weh?

Jeder Schmerz entsteht im Kopf. Auch wenn ich mir mit dem Hammer auf die große Zehe schlage – die entsprechende Botschaft aus dem peripheren Nervensystem wird erst im Gehirn zur Meldung „Schmerzen an der linken Großzehe“. Treten Schmerzen häufig auf oder bestehen über längere Zeit, brennen sie sich im Gehirn ein. Auch wenn der ursprünglich auslösende Reiz längst ausgeschaltet wurde, kann es sein, dass aus dem Schmerzgedächtnis weiter Funksignale abgesendet werden, die mir vorgaukeln, es gäbe ein Problem.

So ähnlich wie bei einem Phantomschmerz also.

Richtig. Da hat der Patient vor Jahren sein Bein verloren, aber immer wieder tut ihm der Fuß weh oder juckt. Dass das eine Fehlfunktion im Gehirn sein muss, ist ganz offensichtlich. Der Grund ist, dass das Areal, das im Gehirn für den Fuß zuständig ist, ja noch da ist. Das ist ja nicht mit amputiert worden! Wenn dann eine Fehlprogrammierung erfolgt, bleibt der Schmerz bestehen. Das kann bei Rückenschmerzen genauso passieren. Oder nach einer Operation.

Was fördert, dass chronische Schmerzen entstehen?

Problematisch ist es, wenn wir Schmerzen nicht schnell und effektiv behandeln. Das begünstigt die Chronifizierung massiv! Je länger der Schmerz da ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass genau das passiert. Das Schlimme ist, dass oft viel zu viel Zeit vergeht, bis die Patienten eine wirksame Schmerztherapie bekommen.

Beispiel Rückenschmerzen: Wie sollte eine Behandlung idealerweise ablaufen?

Frühzeitig aggressiv therapieren und zwar immer parallel mit mehreren Ansätzen! Es gibt wirksame Rückenschmerzprogramme, die den Patienten in den Beruf zurückbringen.

Zuerst mit Medikamenten?

Ja, kurzzeitig kann eine medikamentöse Schmerzbehandlung sinnvoll sein, wenn Muskelverspannungen bestehen. Auch Entspannungstrainings helfen. Oder Akupunktur, die kann Blockaden lösen. Vielen hilft auch die Tanskutane Elektrischen Nervenstimulation – kurz TENS genannt. Dabei werden mit einem kleinen Gerät elektrische Impulse erzeugt, die dann mit Elektroden auf die schmerzende Region übertragen werden.

Man kann also einiges tun.

Das wichtigste ist aber Bewegung! Sich bei Rückenschmerzen zu schonen, oder bei Schmerzen überhaupt, ist Gift. Darum ist eine Physiotherapie ganz wichtig.

Viele Rückenpatienten haben Angst sich zu bewegen, weil sie fürchten, dass das die Sache verschlimmern kann.

Bei einer Physiotherapie werden einem Ängste genommen sich zu bewegen. Man lernt unter Anleitung, welche Belastung man sich zutrauen darf und wie man schädliche Bewegungsabläufe vermeidet.

Grundsätzlich sind Ängste doch ohnehin ein Faktor, der die Chronifizierung von Schmerzen wahrscheinlicher macht.

Genau. Wenn ich etwa denke, ich habe Rückenschmerzen und wenn ich mich jetzt weiter bewege, dann bin ich vielleicht gelähmt. Oder wenn ich Bauarbeiter bin und Angst habe, meinen Job zu verlieren, wenn ich schmerzbedingt für längere Zeit ausfalle. All das zieht mich tiefer in den Strudel chronischer Schmerzbilder rein. Deshalb muss man frühzeitig gegensteuern.

Psyche und innere Haltung spielen also bei der Schmerzwahrnehmung eine zentrale Rolle.

Dafür kann ich Ihnen ein phantastisches Beispiel nennen. In Australien gab es eine Aufklärungskampagne. Die hat sich an die Bevölkerung gerichtet, aber auch an die Ärzte. Es wurde transportiert, dass Rückenschmerzen super häufig sind und einfach als Form bedingten Gesundseins anzusehen seien. Dass man sich weiter bewegen, weiter zur Arbeit gehen und nicht so viel Aufhebens darum machen solle.

Nach dem Motto: Ist halt so, es zwackt ab und zu im Kreuz?

Eben! Und wissen Sie was passiert ist? Die Zahl der Menschen, die sich überhaupt über Rückenschmerzen beklagen oder deswegen zum Arzt gehen, ist danach dramatisch gesunken. Das ist doch irre!

Sie raten auch aus psychologischen Gründen davon ab, beispielsweise bei Rückenschmerzen Röntgenbilder machen zu lassen.

Das sollte man tatsächlich nur in Ausnahmefällen tun, beispielsweise bei Lähmungserscheinungen. Wir sind ja alle degenerierte Couch-Monster. Bei keinem über 30 sieht die Wirbelsäule noch so richtig prickelnd aus.

Und wenn ich das auch noch mit eigenen Augen auf einem Bild sehe, ist das nicht unbedingt hilfreich.

Im Gegenteil! Stellen Sie sich vor, der Orthopäde sagt einem 30-Jährigen: „Sie haben die Wirbelsäule eines Greises.“ Der Patient wird sich noch mehr in seinen Schmerzen bestätigt fühlen! Da geraten wir in eine totale Chronifzierungsspirale.

Röntgenaufnahmen führen also oft in die Irre?

Wenn ich zwei Patienten habe – der eine kommt locker flockig reingeschlendert, der andere jaulend auf allen Vieren und ich habe zwei Röntgenbilder - das eine zeigt eine absolut gesunde Wirbelsäule, das andere eine total degenerierte oder einen Bandscheibenvorfall: Ich könnte Ihnen nicht sagen, zu welchem Patienten welches Bild gehört. Das Perfide ist nämlich, dass die Symptome und das, was die Bilder zeigen oft überhaupt nichts miteinander zu tun haben.

Operiert wird dann trotzdem oft.

Wir sind Weltmeister, was die Rücken-OPs anbelangt! Fast jeder dritte Rückenpatient wird operiert, doch nur für drei Prozent ist eine Operation angezeigt. Ein Chirurg wird ja immer erstmal gerne sagen, das operieren wir mal weg. Aber das klappt häufig überhaupt nicht. Das Problem ist, dass bei den meisten Patienten die Rückenschmerzen trotz der Operation wiederkehren, dass die bleiben oder danach sogar noch schlimmer werden.

Was kann man tun, wenn der Schmerz bereits chronisch geworden ist?

Es gibt keine Löschtaste, wir müssen das Schmerzgedächtnis mit neuen Informationen überschreiben. Dazu müssen wir den Patienten mit in die Verantwortung nehmen. Sich auf den Rücken legen, ´ne Pille einwerfen und drauf warten, dass es besser wird – so funktioniert das nicht. Der Patient muss mitarbeiten. Und das gefällt vielen nicht.

Was heißt mitarbeiten konkret?

Auch bei chronischen Schmerzen gilt: Das Wichtigste ist aktiv zu bleiben, wieder in Bewegung zu kommen. Früher war der Klassiker Schonung. Da ist man heute komplett von weg. Das Motto heißt jetzt Tango statt Fango! Das gilt für fast alle Formen von Schmerz.

Klingt doch vielversprechend.

Natürlich. Aber sagen Sie das mal einem 150-Kilo-Mann, der sich seit Jahren nicht mehr von der Couch hochgewuchtet hat. Der hat gehofft, er kriegt bei mir, dem Schmerzmediziner, endlich die geheime Wunderpille, die seine Schmerzen wegzaubert. Der ist davon nicht begeistert.

Je aktiver ich bin, desto eher kriege ich meine Schmerzen in den Griff?

Richtig. Die eigene Haltung dazu ist entscheidend. Aber auch die Reaktion des Umfelds! Ein wesentlicher Chronifizierungsfaktor sind nämlich auch überfürsorgliche Angehörige. Wenn die den Patienten ermutigen, sich zu schonen und ihn gut gemeint umsorgen, geht der Schuss nach hinten los. Wenn ein Mann mit „Rücken“ sein Bier an die Couch gebracht kriegt, steht der so schnell nicht wieder auf.

Sind chronische Schmerzen also auch ein Stück weit Disziplinlosigkeit?

Das kann man so nicht sagen. Es gibt beispielsweise viele Patienten mit Ganzkörper-Schmerzerkrankungen wie Fibromyalgie. Eine mögliche Ursache kann hier z.B. in einem frühkindlichen Missbrauch liegen. Einfach nur die Arschbacken zusammenkneifen, so ein Rat wäre viel zu schlicht.

Wie gehen Sie mit so schwer belasteten Patienten um?

Chronische Schmerzen haben meist viele Ursachen, sehr oft auch seelische. Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte, die auch Beachtung verdient. Mit Schmerzmitteln oder einer Operation allein ist es darum nicht getan. Wir müssen die Leute motivieren, Ihnen ein besseres Verständnis ihrer Schmerzursachen vermitteln und sie aus der Hoffnungslosigkeit herausholen.

* Prof. Sven Gottschling hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, kranken Menschen ihre Schmerzen zu nehmen und ihnen mehr Lebensqualität zu geben. Der 45-Jährige ist Chefarzt am Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie des Uniklinikums des Saarlandes. Und er ist Bestsellerautor. Sein aktuelles Buch „Schmerz Los Werden - Warum so viele Menschen unnötig leiden und was wirklich hilft“ ist im September im Fischer-Verlag erscheinen.

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Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

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