Gavriel Rosenfeld

Gavriels letzte Chance

Von , Medizinredakteurin und Biologin
Dr. Andrea Bannert

Dr. Andrea Bannert ist seit 2013 bei NetDoktor. Die promovierte Biologin und Medizinredakteurin forschte zunächst in der Mikrobiologie und ist im Team die Expertin für das Klitzekleine: Bakterien, Viren, Moleküle und Gene. Sie arbeitet freiberuflich zudem für den Bayerischen Rundfunk und verschiedene Wissenschaftsmagazine und schreibt Fantasy-Romane und Kindergeschichten.

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Der 14-jährige Gavriel muss bald sterben. Es sei denn, es gelingt, einen Fehler in seinem Erbgut zu flicken. Bisher war das ausgesprochen schwierig. Eine revolutionäre Entdeckung könnte das jetzt ändern.

Gavriels Muskeln lösen sich auf  – jeden Tag ein Stückchen mehr. Dabei ist der fröhliche Junge mit dem rundlichen Gesicht und den kurzen, schwarzen Haaren gerade mal 14 Jahre alt. Schon heute sitzt er im Rollstuhl. In spätestens zehn Jahren werden auch seine Herz- und Atemmuskulatur versagen. Denn Gavriel leidet an einer seltenen Erbkrankheit, der Muskeldystrophie Duchenne. Ein Todesurteil - zumindest heute noch. Denn es gibt es bisher keine Therapie.

Das könnte sich bald ändern. Teile von Gavriel, genaugenommen einige seiner Muskelzellen, befinden sich zurzeit im Labor von Dr. Ronald Cohn am SickKids Hospital in Toronto. Diese Zellen schwinden nicht - im Gegensatz zu denen in Gavriels Körper. Denn Cohn hat sie genetisch verändert.

Fehler im Bauplan

Bei der Muskeldystrophie Duchenne ist ein bestimmtes Gen fehlerhaft, man sagt auch mutiert. Es speichert den Bauplan für ein wichtiges Muskelstrukturprotein, das Dystrophin. Kann dieses aufgrund einer Mutation nicht mehr abgelesen und umgesetzt werden, bauen sich die Muskeln ab. Meistens sind Jungen von der Krankheit betroffen. Denn das Gen liegt auf dem sogenannten X-Chromosom. Davon besitzen Frauen zwei, Männer aber nur eines, sodass sie den Defekt nicht ausgleichen können. Etwa einer von 5000 Jungen leidet an der tödlichen Krankheit.

Die Idee, den Fehler im Dystrophin-Gen zu reparieren, erscheint naheliegend. Aber bisher fehlte dazu das passende Werkzeug. „In den letzten zehn Jahren haben Forscher mit immer wieder neuen Verfahren versucht, Gentherapie möglich zu machen“, sagt Cohn gegenüber NetDoktor. Sie alle erweisen sich allerdings als kompliziert anzuwenden und gefährlich ungenau.

Ein neues Kapitel der Medizin

Vor einigen Jahren entdeckten dann die beiden Genforscherinnen Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna durch Zufall eine Genschere in Bakterien, die die DNA sehr präzise schneiden kann: CRISPR/Cas9. Eigentlich gehört sie zum Immunsystem der Mikroorganismen. Sie hilft den Bakterien, Viren abzuwehren. Aber sie kann auch verwendet werden, um fehlerhafte Stellen in der menschlichen DNA aufzuspüren und zu korrigieren. Das funktioniert ähnlich wie der Befehl „Suchen und Ersetzen“ in einem Word-Dokument. „Jetzt haben wir eine Technik, die sehr exakt, schnell und effizient ist - und dabei nicht besonders teuer“, sagt Cohn. Der Experte spricht von einem neuen Kapitel in der Medizingeschichte, das mit dieser Entdeckung aufgeschlagen worden sei.

Cohn möchte eine Therapie entwickeln, die Gavriel das Leben rettet. Er kennt den Jungen inzwischen seit zehn Jahren. Gavriels Vater hatte Cohn kontaktiert, nachdem er erfahren hatte, dass der Wissenschaftler an der Muskeldystrophie Duchenne forscht. Inzwischen ist Cohn mit der Familie Rosenfeld eng befreundet.

Viren als Taxis für die Genschere

Was mit Gavriels Muskelzellen in der Petrischale bereits funktioniert hat, muss nun auf ein lebendes Objekt übertragen werden. Dazu entwickeln Cohn und sein Team Mäuse, die genau die gleiche Mutation im Dystrophin-Gen besitzen wie Gavriel: eine Dopplung bestimmter Abschnitte des Gens, der Exons 18 bis 30. Mit Hilfe von sogenannten Adeno-assoziierten Viren, die gezielt Skelett- und Herzmuskeln infizieren, bringen die Forscher dann das CRISPR/Cas9-System an die defekte Stelle.

Die Genschere Cas9 rüsteten die Wissenschaftler vorher mit einer Erkennungssequenz aus. Das ist ein kurzes Stück Erbmaterial, das an die fehlerhafte Stelle in der DNA andockt und die Genschere so an die richtige Stelle lotst. Diese trennt dann die überflüssige Sequenz heraus. Anschließend kittet das natürliche Reparatursystem der Zellen die Schnittstellen und fügt so das Gen in seiner funktionstüchtigen Form wieder zusammen.

Lücke im Regelwerk

Gelingt das Experiment, steht Cohn aber vor einem weiteren Problem: Damit er Gavriel die Spritze mit den Genschere-beladenen Viren überhaupt verabreichen darf, müsste dieser offizieller Teilnehmer einer genehmigten klinischer Studie sein. „Aber dafür bräuchte ich etwa hundert Kinder“, sagt der Genforscher. So lauten die Bestimmungen für die Zulassung neuer Medikamente. Doch so viele geeignete Patienten zusammenzukriegen, ist fast aussichtslos: Die Krankheit ist nicht nur selten, es gibt gibt ganz unterschiedliche Mutationen, die sie verursachen. Nur rund 15 Prozent der Duchenne-Kinder haben eine Doppelung im Dystrophin-Gen wie Gavriel. Und nur an ihnen ließe sich die Wirksamkeit der von Cohn entwickelten Therapie testen. „Es handelt sich um eine sehr individuelle Behandlung - und so etwas ist im Zulassungssystem noch gar nicht vorgesehen“, erklärt Cohn. Es müssten also zuerst neue Rahmenbedingungen geschaffen werden.

Darin berücksichtigt werden müssten auch die möglichen Langzeitwirkungen einer Therapie – und die sind oft schwer einzuschätzen. So auch in diesem Fall: Bei Versuchen an Zellen schnitt die Genschere in bis zu vier Prozent der Fälle am falschen Ort. Diese sogenannten off-target Mutationen könnten möglicherweise Krebs auslösen. „Ob das wirklich ein Risiko ist, können wir erst sagen, wenn wir die Methode am Menschen angewendet haben“, sagt Cohn. Schließlich sei der Mensch weder eine Zelle in der Petrischale, noch eine Maus.

Wettlauf gegen die Zeit

Der Forscher arbeitet gegen die Zeit, denn die wird für Gavriel bald abgelaufen sein. Fast alle Patienten sterben spätestens mit Anfang zwanzig. Noch kann sich der Junge selbst anziehen und eigenständig essen, aber die Kraft seiner Muskeln nimmt stetig ab. Trotzdem hofft Cohn, für seinen kleinen Freund noch rechtzeitig eine Lösung zu finden: „Ich sehe noch eine Chance.“

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Autor:
Andrea Bannert
Dr.  Andrea Bannert

Dr. Andrea Bannert ist seit 2013 bei NetDoktor. Die promovierte Biologin und Medizinredakteurin forschte zunächst in der Mikrobiologie und ist im Team die Expertin für das Klitzekleine: Bakterien, Viren, Moleküle und Gene. Sie arbeitet freiberuflich zudem für den Bayerischen Rundfunk und verschiedene Wissenschaftsmagazine und schreibt Fantasy-Romane und Kindergeschichten.

Quellen:
  • Cohn R. et al.: Spell Checking Nature: Versatility of CRISPR/Cas9 for Developing Treatments for Inherited Disorders, American Journal of Human Genetics, 7. Januar 2016.
  • Gersbach C. A. et al.: In vivo genome editing improves muscle function in a mouse model of Duchenne muscular dystrophy, Science, 22. Januar 2016.
  • Jinek M. et al.: A Programmable Dual-RNA–Guided DNA Endonuclease in Adaptive Bacterial Immunity, Science 2012, DOI: 10.1126/science.1225829
  • Mali P. et al.: RNA-guided human engineering via Cas9, Science, Februar 2013, doi: 10.1126/science.1232033
  • Pressemeldung SickKids Hospital: SickKids first to remove duplicated gene using CRISPR, 10. Dezember 2015.
  • Sorek R. et al.: CRISPR – a widespread system that provides acquired resistance against phages in bacteria and archaea, Nature reviews, März 2008, doi: 10.1038/nrmicro1793
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