Rote Figur sticht aus Menge hervor

Masern: Warum sie immer wiederkommen

Von , Medizinredakteurin
Christiane Fux

Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

Alle NetDoktor.de-Inhalte werden von medizinischen Fachjournalisten überprüft.

Das Ziel war ehrgeizig, aber nicht utopisch: Bis 2020 wollte die Weltgesundheitsorganisation WHO Masern weltweit ausrotten. So wie in den 1970-er Jahren die Pocken. Doch das ist wohl nicht mehr zu schaffen – es sind nicht genügend Menschen gegen Masern geimpft. Woran liegt das?

Um eine Infektionskrankheit auszurotten, müssten mehr als 95 Prozent der Bevölkerung geimpft sein. Erst dann nämlich ist der sogenannte Herdenschutz komplett. Das Virus findet in der Bevölkerung schlicht nicht mehr genügend menschliche Wirte, in denen es sich vermehren kann.

Herdenschutz ist neben dem individuellen Schutz vor Ansteckung der wichtigste Nutzen von Schutzimpfungen. Denn durch ihn sind auch jene geschützt, die aus speziellen medizinischen Gründen selbst nicht geimpft werden können. Säuglinge beispielsweise, die für die Impfung noch zu jung sind, oder Kinder und Erwachsene mit schwachem Immunsystem. Wer sich gegen die Impfung entscheidet und damit den Herdenschutz aufs Spiel setzt, gefährdet also nicht nur sich selbst, sondern auch andere. Im Zweifelsfall sogar das eigene Kind.

Kinderkrankheiten sind kein Kinderkram

Das Masernvirus kann töten: Einer von tausend Erkrankten stirbt. In der WHO-Region Europa wurden im vergangenen Jahr fast 60000 Masernfälle und mindestens 64 Todesfälle registriert. Weltweit sind jedes Jahr rund 150000 Masern-Tote zu beklagen.

Sie sterben an Komplikationen wie Lungenversagen oder einer Entzündung des Gehirns, die das Organ nach und nach zerstört. Ein Leidensweg, der sechs bis acht Jahre dauern kann.

Weit entfernt vom Herdenschutz

Auch in Deutschland ist man vom vollständigen Herdenschutz gegen Masern noch immer weit entfernt. Ein wesentlicher Grund ist paradoxerweise der Erfolg der Impfungen: „Viele Menschen nehmen die Gefahren der Krankheit gar nicht mehr richtig wahr, sondern nur die viel geringeren Risiken einer Impfung“, zitiert die Ärztezeitung den Infektiologen Prof. Horst von Bernuth von der Berliner Charité bei einer Diskussion der Friedrich-Naumann-Stiftung.

So erhielten in Deutschland zwar 98 Prozent der 2013 geborenen Kinder die erste Masernimpfung. Die zweite Immunisierung, die im Alter von 24 Monaten erfolgen sollte, hatten selbst mit einem Jahr Verspätung nur 86,5 Prozent der Kinder bekommen. "Damit ist jedes Jahr bei rund 180000 Zweijährigen kein sicherer Masernschutz gegeben - oder die Kinder sind gar nicht geimpft. Das ist ein unhaltbarer Zustand", so Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI).

Vielen Eltern, sei gar nicht klar, dass die zweite Impfung überhaupt wichtig ist, berichten Kinderärzte immer wieder. Doch bei bis zu fünf Prozent der Kinder ist der Impfschutz erst nach der Wiederholungsimpfung vollständig.

Impfskepsis im „bürgerlichen Milieu“

Die vom RKI genannten Zahlen sind zudem nur Durchschnittswerte – sie können von Bundesland zu Bundesland und sogar innerhalb von Landkreisen und großen Städten stark schwanken. Das belegte zumindest eine Untersuchung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung aus dem Jahr 2013. „Unsere Studie zeigt, in welchen Regionen Deutschlands der Impfschutz gegen Masern entweder nicht ernst genug genommen wird. Oder wo verunsicherte Eltern sich gegen die Immunisierung entscheiden oder diese hinausschieben“, erklärt Studienautorin Maike Schulz.

Gründe seien fehlende oder falsche Informationen über Nutzen und Risiken der Schutzimpfung. Vor allem im "bürgerlichen Milieu" sei die Impfskepsis verbreitet, sagte die Wissenschaftlerin in der Tagesschau.

Für wie gefährlich Experten die Impfskepsis halten, zeigt eine aktuelle Einschätzung der WHO: Sie hat Impfverweigerer als eines der zehn größten Gesundheitsrisiken weltweit ausgemacht.

Impflücke bei den Jahrgängen nach 1970

Die größte Impflücke klafft allerdings nicht bei den Kindern, sondern in der Gruppe der Erwachsenen, die nach 1970 geboren sind. Damals wurden Kinder erstmals vermehrt gegen Masern geimpft - aber längst nicht alle: Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) haben mehr als 40 Prozent der Kinder damals nur eine oder gar keine Masernimpfung erhalten.

Der Effekt: Während vor 1970 so gut wie jedes Kind eine Maserninfektion durchmachte und auf diese Weise lebenslangen Immunschutz erwarb, sank die Infektionsquote mit der steigenden Zahl geimpfter Kinder deutlich. Nun gab es plötzlich viele Kinder, die zwar selbst nicht geimpft waren, aber durch den teilweisen Herdenschutz nicht mehr mit dem Masernvirus in Kontakt kamen. Sie wuchsen ohne Immunschutz auf. Und können auch jetzt noch, als Erwachsene, jederzeit erkranken.

Ständig neue Masernwellen

Ob Impfskepsis oder Sorglosigkeit – die Impflücken in der Bevölkerung haben sichtbare Folgen. So treten weltweit immer wieder Masernwellen auf. Aktuell in den östlichen Bundesstaaten der USA und in Österreich, wo in den letzten Tagen dutzende Menschen erkrankt sind, die meisten davon in der Steiermark. Das Virus wurde vermutlich aus der Ukraine eingeschleppt, wo seit Monaten eine regelrechte Epidemie wütet. 2018 erkrankten dort nach Angaben der WHO mehr als 44000 Menschen an Masern.

Impfpflicht für Deutschland

Zukünftig wird auch in Deutschland für Kinder und bestimmte Berufsgruppen eine Impfpflicht für Masern gelten. Beispielsweise Lehrer, Kindergärtner und medizinisches Personal. In anderen europäischen Ländern ist die Impfpflicht schon länger Realität. Darunter auch Frankreich oder Italien, das nach einer dramatischen Masernwelle 2002 nun auch diese Impfung in den Katalog der vorgeschriebenen Schutzimpfungen aufgenommen hat.

Schutz der Kinder geht vor

Befürworter einer Impfpflicht in Deutschland hatten ins Feld geführt, dass der Schutz der Kinder vor schweren Infektionen Vorrang habe – ähnlich wie die Anschnallpflicht im Auto und notfalls auch gegen den Willen der Eltern. Zudem sei dies der einzige Weg, die Masern hierzulande zu eliminieren.

„Menschen sterben an Krankheiten, die längst ausgerottet wären, wenn sich alle Eltern gleichermaßen verantwortungsbewusst verhalten würden“, sagt beispielsweise Dr. Thomas Fischbach, Präsident der Bundesvereinigung der Kinder und Jugendärzte in einer Stellungnahme.

Nicht nur Impfgegner sind gegen eine Pflichtimpfung

Gegner der Impfpflicht sind keinesfalls nur Impfskeptiker. Auch namhafte Experten haben sich dagegen ausgesprochen. Dazu gehört sogar RKI-Präsident Wieler, der immerhin Deutschlands oberster Seuchenschützer ist.

Denn die Impfpflicht gelte nur für Kinder und eben nicht für die am stärksten betroffene Gruppe der nach 1970 Geborenen, schreibt er in einem Gastbeitrag in der Ärztezeitung. Diesen Teil der Bevölkerung gelte es besser aufzuklären. Wieler empfiehlt außerdem, bürokratische Hürden abzubauen. Damit beispielsweise der Kinderarzt ungeimpfte Eltern gleich mitimpfen könnte.

Informieren und erinnern

Er und andere Experten hatten statt auf eine Impfpflicht darauf gesetzt, Ärzte stärker für die Problematik zu sensibilisieren. Ob als Eltern oder in eigener Sache: „Menschen vertrauen Personen, nicht Institutionen“, sagte Infektiologe Prof. Horst von Bernuth von der Berliner Charité einem Bericht der Ärztezeitung zufolge.

Ärzte sollte man stärker dazu motivieren, beispielsweise gezielt auch Erwachsene aus den kritischen Jahrgängen nach ihrem Impfstatus zu befragen. Von Bernuth sagt: „Zwei Drittel der Menschen, die sich und ihre Kinder nicht impfen lassen, haben es einfach vergessen. Sie brauchten eigentlich nur eine Erinnerung.“

Dieser Artikel wurde anlässlich des Gesetzesbeschluss zur Masernimpfpflicht am 17. Juli 2019 aktualisiert.

Autoren- & Quelleninformationen

Jetzt einblenden
Datum :
Autor:

Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

Quellen:
  • Deutschland hat Nachholbedarf beim Impfen, Ärzteblatt, 19.April 2018
  • Impfpflicht soll Kinder vor Masern schützen, Bundesministerium für Gesundheit, www.bundesgesundheitsministerium.de, Abruf: 17.07.2019
  • Lothar H. Wieler: Impfpflicht würde Masernproblem nicht lösen, Ärzte Zeitung online, 25.09.2017
  • Pressemitteilung BVKJ, Kinder- und Jugendärzte fordern Impfpflicht, 30.11.2017
  • Pressemitteilung: Ungesunde Nachbarschaften: In wohlhabenden Landkreisen Süddeutschlands leben auffällig viele Impfverweigerer, 4. Juli 2017, Presseversorgungsatlas
  • RKI: Epidemiologisches Bulletin, Aktuelles aus der KV-Impfsurveillance – Impfquoten ausgewählter Schutzimpfungen in Deutschland, 4. Januar 2018
  • Robert-Koch-Institut: Maser Impfquoten in Deutschland, www.vwcmap.de, Abruf 5.2.2019
  • Studie zu Masernimpfung "Es sind zu wenige Kinder geimpft", Tagesschau, 12.09.2018, www.tageschau.de
  • WHO-Pressemitteilung: Europäische Region verzeichnet 2017 Vervierfachung der Masernfälle gegenüber Vorjahr, 19.02.2018
  • WHO-Pressemitteilung: Masern erreichen Höchststand in der Europäischen Region, 20. August 2018
Teilen Sie Ihre Meinung mit uns
Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie NetDoktor einem Freund oder Kollegen empfehlen?
Mit einem Klick beantworten
  • 0
  • 1
  • 2
  • 3
  • 4
  • 5
  • 6
  • 7
  • 8
  • 9
  • 10
0 - sehr unwahrscheinlich
10 - sehr wahrscheinlich