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„Dass man Schmerzen aushalten muss, ist Blödsinn!“

Von , Medizinredakteurin
Christiane Fux

Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

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Ob nach Operationen oder bei chronischen Schmerzen: In Deutschland wird millionenfach unnötig gelitten. Der Grund: Die meisten Ärzte kennen sich mit Schmerzmedizin erschreckend wenig aus. Schmerzmediziner und Bestsellerautor Prof. Sven Gottschling erzählt im NetDoktor-Interview, was falsch läuft und wie man es besser machen kann.

Herr Prof. Gottschling, wenn man Ihr neues Buch* liest, scheint Deutschland in puncto Schmerztherapie ein Entwicklungsland zu sein. Wie kann das sein?

Nicht nur Deutschland ist in diesem medizinischen Feld rückständig! In drei Viertel der Welt hat Schmerztherapie kaum den Stellenwert, den es für die betroffenen Menschen hat.

Aber jeder Arzt hat doch Schmerzen schon am eigenen Leib erlebt und weiß, wie sehr sie die Lebensqualität beeinträchtigen können.

Wir alle haben Erfahrung mit Schmerzen aufgrund von Krankheiten oder medizinischen Maßnahmen gemacht. Die meisten – und auch die meisten Kollegen! – haben verinnerlicht, Schmerzen gehören ganz einfach dazu. Das ist natürlich schon der erste Blödsinn! Kein Mensch muss sich durch unangenehme Untersuchungen quälen, keiner muss nach einer Operation größere Schmerzen aushalten und niemand muss sich aufgrund einer Erkrankung quälen. Dagegen können wir etwas tun!

Wie kann es sein, dass selbst Ärzte es nicht besser wissen?

Schmerztherapie spielte in der medizinischen Ausbildung lange Zeit eine viel zu geringe Rolle. Die meisten Ärzte sind schmerzmedizinisch vollkommen unbeleckt. Da wurden Ängste geschürt vor Opioiden, gleichzeitig wurden andere Schmerzmittel wie ASS oder Ibuprofen als harmlos angepriesen. Dabei ist es genau umgekehrt!

Was rezeptfrei über den Tresen verkauft wird, kann ziemlich viel Schaden anrichten.

Massiv! Wenn es nach mir ginge, gäbe es überhaupt keine frei verkäuflichen Schmerzmittel. Das klingt jetzt sehr restriktiv. Wir wissen aber von mehren tausend Blutungstoten in Deutschland, wir wissen von Dialysepatienten, die keine wären, hätten sie dieses Zeug nicht gefuttert. Dass solche Wirkstoffe frei verkäuflich sind, sendet ein falsches Signal. Es suggeriert eine Harmlosigkeit, die nicht gegeben ist. Viele Menschen werfen völlig unkritisch hunderte Schmerzpillen pro Monat ein.

Ärzte selbst gehen mit Schmerzmitteln nach meiner Erfahrung auch nicht gerade zimperlich um.

Stimmt. Ich finde es erschütternd, wie sorglos sogar Profis sind. Ich habe eine Kollegin, die geht total gern Joggen, aber weil sie dann Knieschmerzen bekommt, nimmt sie vorher ein Schmerzmittel ein. Ich habe zu ihr gesagt: ‚Bist du komplett irre? Das Risiko, dass dir die Nieren aussteigen ist riesig!‘ Schmerzmittel plus Flüssigkeitsverlust sind nämlich eine tückische Kombination. Sie hat mich angeguckt wie ein Auto.

Andererseits gibt es aber auch Menschen, die sich unnötig quälen, weil sie nichts nehmen wollen.

Stimmt. Für manche ist jedes Medikament Gift. Die robben lieber auf allen Vieren durch die Gegend bevor sie ein Schmerzmittel einnehmen – und das ist natürlich auch nicht der richtige Weg.

Vor allem bei Opioiden hingegen sind die Ängste groß.

Für Opioide sind die Hürden tatsächlich zu hoch, denn sie sind oft die beste Alternative. Allein der Begriff ‚Betäubungsmittelrezept‘ schreckt ja ab und schürt Ängste bei den Menschen. Die wollen ihre Schmerzen los sein aber nicht betäubt werden. Wenn das schon auf dem Rezept drauf steht … In Österreich heißen die Dinger sogar `Suchtgiftrezept‘.

Aber es stimmt doch: Opioide können abhängig machen.

Man muss zwischen Sucht und Abhängigkeit unterscheiden. Fast jedes Medikament macht körperlich abhängig. Der Körper reagiert auf die Wegnahme einer Substanz, die er längere Zeit erhalten hat, erstmal beleidigt. Wenn Sie plötzlich Ihren Blutdrucksenker absetzten, haut es Ihren Blutdruck durch die Decke. Deshalb muss man die meisten Medikamente ausschleichen, also die Dosis in kleinen Schritten reduzieren. Sucht hingegen ist der psychische Aspekt der Abhängigkeit. Sucht entsteht nur bei Substanzen, die dem Kopf Spaß machen. Durch diesen Kick, den sie einem geben.

Wie kann ich mir so einen Opioid-Kick vorstellen?

Wenn ich Morphin im Schuss in die Vene spritze oder ein Patient schnellwirksame Opioide wie Fentanyl als Nasenspray einsetzt, dann knallt das innerhalb weniger Minuten so richtig schön im Gehirn. Sie fangen an zu fliegen, die Schmerzen sind wie weggepustet, Sie bekommen ein seliges Lächeln ins Gesicht. Das ist ein Gefühl, das die meisten Menschen gerne wiederhaben wollen. Genau das ist es, was süchtig machen kann.

Wann setzen Sie solche Stoffe ein?

Nach Operationen beispielsweise oder zur Behandlung schwerer Tumorschmerzen. Aber viele Ärzte, die sich nicht auskennen, verordnen die falsch. Es gibt so viele alte Damen, die auf Tramaltopfen eingestellt werden, die nur etwa für zwei Stunden wirken. Die Patientinnen schwanken stetig zwischen Kick und Entzug, Kick und Entzug. Das ist natürlich problematisch.

Was ist die Alternative?

Man sollte ein retardiertes Opioid einsetzen, also eine Zubereitung, die den Wirkstoff zeitverzögert über Stunden freigibt. Das nimmt die Schmerzen, aber es hat nicht diesen Kickeffekt.

In Deutschland dauert es meist Jahre, bis ein Patient mit chronischen Schmerzen zum Schmerzmediziner kommt, der Ihn individuell berät und einstellt.

Das ist richtig. Wir haben in Deutschland nur knapp 1000 ausgebildete Schmerztherapeuten, die auch als solche arbeiten. Da beißt sich also die Katze in den Schwanz. Aber es gibt Grund zur Hoffnung: Seit 2016 dürfen Medizinstudenten nur noch ins praktische Jahr, wenn sie einen benoteten Kurs in Schmerzmedizin absolviert haben. Wenn die in ein paar Jahren in verantwortlichen Positionen sitzen, dann wird sich endlich etwas ändern!

* Prof. Sven Gottschling hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, kranken Menschen ihre Schmerzen zu nehmen und ihnen mehr Lebensqualität zu geben. Der 45-Jährige ist Chefarzt am Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie des Uniklinikums des Saarlandes. Und er ist Bestsellerautor. Sein aktuelles Buch „Schmerz Los Werden - Warum so viele Menschen unnötig leiden und was wirklich hilft“ ist im September im Fischer-Verlag erscheinen.

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Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

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