Schmerzmittel

Schmerzmittel – Helfer mit Suchtpotenzial

Von , Medizinredakteurin und Biologin
Luise Heine

Luise Heine ist seit 2012 Redakteurin bei Netdoktor.de. Studiert hat die Diplombiologin in Regensburg und Brisbane (Australien) und sammelte als Journalistin Erfahrung beim Fernsehen, im Ratgeber-Verlag und bei einem Print-Magazin. Neben ihrer Arbeit bei NetDoktor.de schreibt sie auch für Kinder, etwa bei der Stuttgarter Kinderzeitung, und hat ihren eigenen Frühstücksblog „Kuchen zum Frühstück“.

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Starke Schmerzen muss heutzutage keiner mehr ertragen. Die Pharmakologie hält ein breites Waffenarsenal bereit, um die Schmerzen auszutricksen. Allerdings können Schmerzmittel süchtig machen. Wer besonders gefährdet ist und auf welche Warnsignale Sie achten können, berichteten Experten auf dem 15. Suchtforum in München.

Schmerzen sind lebenswichtig: Sie zeigen die eigenen Grenzen auf und warnen, wenn etwas im Körper nicht stimmt. Anders sieht es allerdings bei chronischen Schmerzen aus. Von solchen sprechen Mediziner, wenn sie länger als sechs Monate anhalten. Oft ist bei chronischen Schmerzen keine eindeutige Ursache mehr festzustellen – der ursprüngliche Auslöser ist längst verschwunden. Damit hat der Schmerz seine Alarmfunktion verloren, für die Betroffene aber wird er zur Dauerbelastung.

Gerade diese chronischen Schmerzen plagen immer mehr Menschen in Deutschland: Rund 23 Millionen, so lauten Schätzungen der Experten, leiden darunter. Tendenz steigend, insbesondere bei jungen Menschen.

Verführerische Nebenwirkung

Ihnen können Schmerzmittel helfen. Insbesondere opioidhaltige Medikamente, also Artverwandte des Morphins, bieten auch schweren Schmerzen wirksam die Stirn. Sie ähneln in ihrer Struktur den körpereigenen hormonellen Schmerzstillern und können so passgenau die richtigen Rezeptoren besetzen. Das Problem: Gerade diese Wirkstoffe zähmen nicht nur den Schmerz, sie wirken auch auf die Psyche – sie dämpfen Ängste und heben die Stimmung. Und das kann süchtig machen.

Lange wurden sie deshalb in Deutschland sehr zurückhaltend verschrieben. „1995 lag der pro Kopf Verbrauch bei 10 Milligramm Morphin – damit war die Bundesrepublik Schlusslicht in Europa“, berichtet Dr. Heidemarie Lux, Vizepräsidentin der Bayerischen Landesärztekammer. Seitdem hat sich viel getan, 2011 betrug die Verschreibungsmenge bereits 400 Milligramm pro Kopf – damit steht Deutschland weltweit auf Platz fünf.

Schwere Geschütze gegen schwere Schmerzen

Problematisch ist, dass die opioidhaltigen Schmerzmittel dennoch nicht immer den richtigen Patienten zugute kommen. Gerade bei Krebs- und Palliativpatienten, die die starken Schmerzmittel dringend brauchen, ist die Zurückhaltung noch immer groß. Auch bei älteren Menschen, die etwa durch eine Demenzerkrankung nicht richtig kommunizieren können, gehen Experten von einer Unterversorgung aus. Die Angst vor einer Abhängigkeit sollte vor Opioiden aber nur zurückschrecken lassen, wenn sie sinnvoll sind: „Wirklich schlimme Schmerzen, sollte keiner ertragen müssen“, sagt Lux.

Anders ist die Lage bei Zipperlein, die man anders gut in den Griff bekommt. Doch werden zunehmend auch Malaisen wie chronische Rückenschmerzen mit unnötig schweren Geschützen bekämpft. Groteske Ausmaße hat das inzwischen in den USA angenommen: Dort greift man schon bei Zahnschmerzen zu Opioiden.

Ein stilles Heer von Süchtigen

Je freigiebiger die Medikamente verteilt werden, desto höher steigt die Zahl der Patienten, die abhängig werden. Waren es früher vor allem Frauen, ziehen nun auch die Männer nach. Oft bleibt die Medikamentensucht lange verborgen, denn sie verläuft unauffällig. „Stille Sucht“, wird sie deswegen auch genannt. Mit Schätzungen, wie viele Patienten nach einer Schmerzmitteltherapie süchtig werden, halten sich die Experten zurück. Eine Studie von 2008 geht davon aus, dass dieses Schicksal circa 3,3 Prozent der Menschen betrifft, die eine Langzeitbehandlung mit Opioiden für starke, nicht tumorbedingte Schmerzen, erhalten.

Die Psyche stärker berücksichtigen

Ein Grund für das Abrutschen in die Abhängigkeit ist, dass Ärzte zu wenig berücksichtigen, wie anfällig jemand für das Suchtpotenzial der Opioide ist. „Es muss mehr Psychologie einfließen in die Schmerzmittelvergabe“, fordert Prof. Felix Tretter, Vorsitzender der Bayerischen Akademie für Suchtfragen in Forschung und Praxis.

Entscheidend sei beispielsweise, ob jemand bereits eine Suchthistorie mitbringt. Aber auch bei allen anderen spielt die Psyche eine wichtige Rolle: Wie gut der Patient mit Stress umgehen kann, ob er ängstlich ist oder zu Depressionen neigt – all das beeinflusst, wie empfänglich er für die angenehm stimmungsaufhellenden „Begleitgefühle“ der Schmerzmittel ist.

Schon bei einem beginnenden Unwohlsein, einer aufkommenden Angst greifen gefährdete Patienten dann zum Medikament. Das ist oft der Beginn eines Teufelskreises, denn „an Opiate passt sich der Körper sehr schnell an“, erklärt Tretter. Das bedeutet, die Zahl der Rezeptoren verändert sich und man braucht mehr Wirkstoff, um noch die gleiche Wirkung zu erzielen.

Warnsignale für die Sucht

Das Verlangen nach einer höhere Dosis ist dann auch das erste Warnsignal für eine beginnende Schmerzmittelsucht. Aufmerksam sollte man auch werden, sobald man vom vorgegebenen Dosierungsschema abweicht und die Medikamente eigenmächtig „nach Bedarf“ anwendet. Auch, wenn es zunehmend weniger darum geht, Schmerzen auszuschalten, sondern unangenehme Gefühle zu unterdrücken – am besten, noch bevor sie überhaupt auftreten. Wer immer weniger Bedenken gegenüber möglicher Nebenwirkungen hat, steht ebenfalls auf der Kippe. Kritisch wird es, wenn jemand seine Opioide weiter nimmt, obwohl sich der Schmerz, für den sie ursprünglich verschrieben wurde, durch die Einnahme nicht mehr bessert. Spätestens wer von Arzt zu Arzt zieht, um an ein neues Rezept zu kommen, steckt tief in der Abhängigkeit.

Schmerzen vorbeugen

Ein weiterer Grund für den steigenden Schmerzmittelbedarf (aber auch die damit verbundenen Suchtproblematik) ist, dass Ärzte in den letzten Jahren Schmerzmittel zunehmend auch präventiv geben. So lässt sich verhindern, dass ein Akutschmerz chronisch wird. „Dazu werden beispielsweise bei Operationen gleichzeitig zur Narkose Schmerzmittel verabreicht, damit sich kein Schmerzgedächtnis ausbildet“, führt Lux aus. Dabei besteht aber die Gefahr, dass später bei der ambulanten Überwachung und der Anpassung der Dosis etwas schiefgeht. „Der Gebrauch von Opioiden und vor allem auch das behutsame Absetzen muss immer unter engmaschiger Kontrolle eines Arztes erfolgen“, warnt Lux. Nur so wird sichergestellt, dass der Körper keine Entzugserscheinungen entwickelt, die ein Ausschleichen der Medikamente schwierig machen.

Verhängnisvolle Verordnungsfehler

Auch dass manche Ärzte sich nicht gut genug auskennen mit der Wirkung der schmerzlindernden Pillen, lässt die Sucht an Boden gewinnen. So machen beispielsweise teilweise die sehr starken Mittel sogar weniger abhängig als die weniger starken. Sie haben nicht so viele positive Nebenwirkungen, die die Sucht befördern. Ebenfalls tückisch: Die verschiedenen Schmerzmittelklassen zu mischen. Weil alle Wirkstoffe sich auf die gleichen Rezeptoren stürzen, kann sich die Wirkung potenzieren.

Hat die Sucht den Patienten erst einmal in ihren Krallen, hilft nur noch ein Entzug. Entscheidend ist, dass dieser professionell begleitet wird. Neben der Eindämmung der körperlichen Entzugserscheinungen gilt es dann vor allem auch die Psyche von den Helferlein zu entwöhnen. Und die hängt oft weit stärker an den Pillen, als der Körper selbst.

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Luise Heine ist seit 2012 Redakteurin bei Netdoktor.de. Studiert hat die Diplombiologin in Regensburg und Brisbane (Australien) und sammelte als Journalistin Erfahrung beim Fernsehen, im Ratgeber-Verlag und bei einem Print-Magazin. Neben ihrer Arbeit bei NetDoktor.de schreibt sie auch für Kinder, etwa bei der Stuttgarter Kinderzeitung, und hat ihren eigenen Frühstücksblog „Kuchen zum Frühstück“.

Quellen:
  • 15. Suchtforum in München: „Schmerz(medizin) trifft Sucht(medizin)“
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